Von Robert Appel
„Can you please help me, gal?“ Der Fragende kniet vor seiner Vincent Black Shadow, die vor sich hinpoltert, und versucht, mit dem Vakuum-Messgerät die Vergaser einzustellen. Dafür braucht er eine helfende Hand, die am Gasgriff die Tourenzahl konstant hält, was aber nicht immer gelingt. „Hold tight, hold tight!“ bellt er dann, bis die Drehzahl wieder optimal ist. Das Ganze spielt sich nicht etwa in einer Werkstatt ab, sondern an der grossen Strandpromenade, vor den Drehtüren des alt-ehrwürdigen Hotels Imperial, wo zu Glanzzeiten die vornehmen Damen der Upper Class an ihren four-o-clock-Teas nippten. Willkommen in Great Britain! Genauer: am Rande der Classic Tourist Trophy in Douglas, Isle of Man.
TT steht zwar für Tourist Trophy, aber es könnte auch heissen „Töff Total“, denn die gesamte Insel steht kompromisslos im Zeichen der Töffwelt, aber auch der kurligen Protagonisten dieser Verkehrsspezies, vorwiegend Engländer, was den Kurligkeitsfaktor nochmals um ein paar Prozentpunkte nach oben schnellen lässt. An der Classic-TT, 3 Monate nach der „normalen“ TT abgehalten, kommen die rumreichen Old- und Youngtimers zum Einsatz, die in verschiedenen Kategorien rund um die 61 Kilometer lange Strecke röhren, knattern, brüllen, fauchen, jaulen, donnern, ballern und kreischen, gesteuert und entlang der Strecke frenetisch angefeuert von ebenfalls nicht mehr ganz taufrischen Männern in standesgemässen abgewetzten und verbeulten Lederkombis.
Ausser auf den Tribünenplätzen ist der Zugang zu den Beobachtungspunkten der Strecke prinzipiell gratis. Als legaler Beobachtungspunkt gilt, was nicht gerade explizit auf der Strecke ist. Das Sitzen am Streckenrand ist genehmigt, solange die von der angrenzenden Grasnarbe baumelnden Beine die Rennstrecke nicht berühren. So gereicht das Vorbeipreschen der Maschinen in zwei Metern Entfernung zum optischen und akustischen Edelspektakel. Oder der Standort Braddan Bridge: Der Rasenplatz vor der Methodistenkirche ist plastik-bestuhlt und gegen ein geringes Entgelt den Zuschauern zugänglich – der Erlös kommt der Kirchgemeinde zugut, und der Töff darf auch gerne vor der Kirche parkiert werden. In den Pausen können Light Meals und Kuchen erworben und verzehrt werden, hergestellt und verkauft im Kirchgemeindehaus von den barmherzigen und lieben Damen, die ihre Sporen an manchen Kirchenbazars längst abverdient haben. Und unter den schattigen Bäumen kann das Rennen aus Spuckdistanz bequem verfolgt werden, während im Hintergrund die Grabsteine stumm grüssen.
Die Rennstrecke ist in Wirklichkeit die normale Hauptverkehrsader der Insel, und ihre Bewohner nehmen es stoisch, wenn wegen der Rennen der normale Strassenverkehr faktisch zusammenbricht. Dann macht man eben einen Umweg um die halbe Insel, no problem. Ebenso betont geduldig werden die Verzögerungen der einzelnen Rennen von den Spectators aufgrund des Wetters akzeptiert. Es herrscht ja englisches Wetter – also rain quite often. Eine Stunde Verspätung, plus eine, plus eine, plus nochmals eine. OK, let’s have a cup of tea. Irgendwann wird dann aber doch im 10-Sekundentakt gestartet, und die Maschinen brüllen durch die engen Gassen und über die lauschigen Landstrassen entlang der Strecke, umzäunt von pittoresken und wirksamen Steinmäuerchen. Die Tourist Trophy ist mit Sicherheit das verrückteste Motorradrennen auf der verrücktesten Insel dieser Welt, die von den verrücktesten und sympathischsten Menschen bewohnt ist!
Die Insel steht während der TT (jeweils im Juni) und der Classic TT (August) absolut unter dem Zeichen der Töffs. Niemand regt sich auf, wenn die Maschinen überall und überall falsch parkiert werden. Kein Zweifel: die Insel geht mit ihrer Hauptattraktion pfleglich und sorgsam um. Undenkbar in der Schweiz: mein Gott, all diese Leute, und dann diese lauten Motorräder! Jesses, wie schröcklich! Die eingangs erwähnte Geschichte mit dem Vergaser-lahmen Vincent habe ich persönlich als Direktbeteiligter erlebt. In der Schweiz wäre längst die Polizei mit einem Überfallwagen vor Ort erschienen, noch bevor auch nur ein Vergaser eingestellt gewesen wäre. Nicht so aber in Douglas, wo die über mehrere Kilometer der Promenade parkierten Maschinen der Schlachtenbummler locker jede europäische Oldtimer-Ausstellung in den Schatten stellen. Vorherrschende Maschinen tragen das Triumph-Logo auf dem Tank. TT = Triumph-Terror?
Nach knappen zwei Wochen ist der Spektakel vorüber, und die Fährschiffe der Steam Packet Company schaukeln zurück auf die englische Hauptinsel, vollbepackt mit tausenden Motorrädern und ihren übermüdeten Fahrern, während die Insel langsam wieder in Herbstnebelschwaden und Agonie versinkt. Auf Wiedersehen an der nächsten TT, and welcome back! Ich war schon zweimal dort, und die Insel hat mich längst gefangen…
P.S. Fotos gibt’s hier keine – oder doch? Hans Reist machts möglich…
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